Hüter der Erinnerung
Lost Places im Hinzel – vergessene Relikte der Vergangenheit
Der Titel ist sperrig: "Marinesperrzeugamt". Und zu sehen ist auch nicht mehr viel, im Wald bei Heinschenwalde. Da fragst du dich vielleicht, ob das nicht total langweilig ist!? Ich habe es sehr spannend gefunden, denn ein paar "Lost Places" sind noch zu sehen, und die Ausführungen von Waldpädagoge Jörn Freyenhagen lassen die Geschichte lebendig werden. Glücklicherweise nur vor dem geistigen Auge.
Geschichten von Wald und Waffenlager
Jörn Freyenhagen erzählt gerne Geschichten über die Geschichte. Nicht fehlen darf dabei sein Markenzeichen, ein Hut aus Känguru-Leder, mit dem er spannende Erinnerungen an Australien verbindet. Der ehemalige Journalist war viel in der Welt unterwegs und hat über seine Reisen oft in der NDR-Sendereihe "Zwischen Hamburg und Haiti" berichtet. Nun ist er als Waldpädagoge viel in Wäldern der Region tätig. Im Hinzel hat er für das Waldpädagogikzentrum Elbe-Weser im Juli 2020 die öffentliche Führung rund um das Thema "Sperrzeugamt" übernommen. Und da Gäste beim ersten Namen "Bunker-Führung" dachten, es gäbe noch einige Bunker zu sehen, wurde daraus die "Lost-Places-Führung". Diese beginnt bei alten Straßenbahnen aus Bremerhaven, die am Bahnhof Heinschenwalde dem Verfall ausgeliefert sind.
Morbide Straßenbahnromantik
Diese Straßenbahn-Waggons haben Folgendes mit dem Sperrzeugamt zu tun: Nichts. Aber sie stehen an einer für die Geschichte wichtigen Stelle, und ein Lost Place sind sie auch. Das macht sie zu dem idealen Ausgangspunkt der Tour. Der Begriff "Ausgangspunkt" steht übrigens passend vorne am ersten Waggon. Natürlich ist es viel zu gefährlich, diese Wagen zu betreten. Die Reise in die Vergangenheit beginnt davor, mit Blick auf Jägermeister-Werbung.
Glaube mir, es sieht nur so aus als wären Jörn und ich so leichtsinnig gewesen, diese Wagen zu betreten. Die Aufnahmen entstanden mit Spezialeffekten und so. Ähm, ja, genau so war es. Es wäre allerdings auch kein Schaffner dagewesen, der uns hätte kontrollieren oder maßregeln können. Wenn ich wieder mal nach meinem Lieblingsort im Landkreis gefragt werde, dann ist die Straßenbahn nun auf den Top-Plätzen.
Sogar Hochzeitspaare haben hier schon mal ihre Fotos erstellen lassen, eine Braut ganz in Weiß vor dieser morbiden Kulisse. Eine geniale Idee, aber kein Grund für mich zu heiraten. Sorry, liebes Team, die Party findet nicht statt.
Zurück zur Geschichte: Die Straßenbahn fuhr bis 1982 in Bremerhaven. Sie wurde hier sozusagen geparkt und sollte laut Zeitungsbericht aus dem Sommer 2020 irgendwann restauriert werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass daraus noch etwas wird.
Neben den Straßenbahn-Waggons sind Relikte der geheimnisvollen Geschichte im Forst Hinzel zu sehen. Da folgt ein verfallenes Haus, in das wir uns nicht getraut haben. Eine ehemalige Behelfsunterkunft für Mitarbeiter des Torfwerks, und zwischenzeitlich Flüchtlingsunterkunft. Daneben das alte Torfwerk der Familie Strenge, das unter anderem aus Steinen der abgerissenen Gebäude aus Nazi-Zeiten gebaut wurde. Auch das kannst du nur von außen betrachten.
Es gibt übrigens Regeln, die für alle Lost Places gelten.
Hauptregel: Hinterlasse nichts als deine Fußspuren!
- Genehmigung: Erlaubnis einholen, wenn es sich um Privateigentum handelt. Naturschutzgebiete sind tabu.
Aufnahmen, die du ohne Genehmigung erstellt hast (das ist verboten!), dürfen nicht veröffentlicht werden. Das wäre ja auch schön blöd. - Respekt: Nichts mitnehmen, das ist Diebstahl. Und nichts dalassen, das ist Müll.
- Safety First: Vermeide Dunkelheit, Brandgefahren, einsturzgefährdete Bereiche, scharfe Kanten, Stolperfallen ... Gutes Schuhwerk ist Pflicht!
Die einzigen sonstigen Gebäudereste der ehemaligen Waldsiedlung, die nach den Abrissarbeiten 2001 übrig blieben, sind auf einem Privatgrundstück vorhanden. Genauer auf dem Geflügelhof Vollmer. Ob es eines der Gebäude ist, die du nachfolgend siehst? Ich weiß es nicht, es mögen andere gewesen sein. Wenn du an dem großen Hof vorbei kommst, dann kannst du nur aus der Ferne die Gebäude betrachten und deiner Phantasie freien Lauf lassen.
Rampe & Relikte: Von Seeminen zum Eipulver
Die noch heute begehbare einige hundert Meter lange Verladerampe am Bahnhof, ein Stück weiter Richtung Wald, konnte damals nicht gesprengt werden. Von hier aus wurden Seeminen in die Kriegshäfen nach Bremerhaven und Cuxhaven befördert.
Aber hoppla, worum geht es hier überhaupt?
Das Nazi-Regime hatte im Hinzel bei Hipstedt sein größtes Marinewaffen-Arsenal errichtet. Zu dem Gelände gehörten rund 100 Bunker, Verwaltungs- und Produktionsräume, ein ausgedehntes Gleisnetz für die Loren, ein Krankenhaus, unterirdische Wasser- und Treibstofftanks und einiges mehr. Alles in einem Sperrgebiet von 190 Hektar, in das die Einheimischen nur auf wenigen Wegen mit einem Passierschein gelangten. Ein Gebiet gefühlt im Nirgendwo, im dichten Wald: Es wurde bis zum Kriegsende nicht entdeckt. Die Alliierten wussten etwas davon, konnten das Gelände aber nicht genau lokalisieren und ließen die Bomben ein Stück zu südlich fallen. Verzweiflung machte sich breit, bei den Briten. Auf abgeworfenen Flugblättern stand:
"Heinschenwalde, du kleines Loch, wir finden dich doch."
Und dann gab es die Sache mit dem Bomberpiloten. Er wurde über dem Hinzel abgeschossen, und überlebte den Sprung mit dem Fallschirm in einem Baum.
Landwirte wollten den Mann eigentlich lynchen, aber der diensthabende Offizier Walter Schmalz schritt mit gezückter Pistole ein. Nach den Genfer Konventionen sollte der Pilot als Kriegsgefangener behandelt werden, was ihm das Leben rettete. Die Landwirte fanden das doof, der Pilot war glücklich. Seine Familie besaß in Texas eine Fabrik für Eipulver, von welchem er drei Waggons nach Heinschenwalde schickte. Für die hungernden Dorfbewohner war das ein Fest. In einer von Walter Schmalz persönlich geschmiedeten riesigen Bratpfanne wurden für alle Bratkartoffeln mit Rührei zubereitet. Das 75 Jahre alte Seil bewahrte er auf, es ist nun während der Führung zu sehen.
Aber da gibt es ja noch so schöne - und nicht so schöne - andere Geschichten. Wie die vom Kiosk, unter dessen Tresen Hochprozentiges verkauft wurde. Über die Abholzung, die aufgrund von Reparationsahlungen stattfand. Über die Geeste, in der früher mal Fische schwammen, und die schöne Haselnussbrücke. Davon berichtet dir Jörn auf der Führung. Eine grobe Einordnung der Nutzungen des Geländes im Laufe der Zeit findest du schon unten in der Infobox. Wenn du dir diese Daten vorab anschaust, kannst du vor Ort richtig klugscheißern.
Nun stellt sich Jörn Freyenhagen aber selbst kurz vor, und erzählt dir noch mehr über den Bruchpiloten:
Bunkerreste im Dickicht des Waldes
Die Bunker wurden nach dem Krieg gesprengt. Je 30 bis 50 Seeminen waren darin gelagert. Der Durchmesser lag bei 1,50 Meter, das Gewicht bei 1,15 Tonnen. Davon entfallen 450 Kilogramm auf den Sprengstoff. Diese Minen in den Bunkern sollten also gesprengt werden. Dafür wurden die Bunker erst geflutet. Nur einer, der wurde scheinbar zu früh gesprengt, oder etwas ist schiefgelaufen. Jedenfalls hat sich hier der Bunker teilweise erhalten, und so ist die große Bunkermauer das heutige Ziel der Führung.
Die meisten der ehemaligen Bunker sind nur als Hügel zu erkennen. Manchmal mag es sich auch um ein historisches Hügelgrab handeln. Es wird sich zeigen, wann diese ollen Bunker unter der Last der darauf wachsenden Bäume eventuell einmal in sich zusammen fallen. Erst, wenn du darauf achtest siehst du, wie viele Bunkerreste sich im Hinzel noch verbergen. Die Seeminen sollen aber alle verräumt worden sein, da droht keine Gefahr mehr.
Auch die alten unterirdischen Wassertanks existieren noch. Aber wo!?
Der Hinzel und sein gleichnamiger NORDPFAD
Die Führung von Jörn orientiert sich nicht am NORDPFAD, es gibt nur relativ wenige Überschneidungen. So ist der Bahnhof Heinschenwalde noch etwa 2 km von Startpunkt Nr. 2 des Wanderwegs entfernt. Wenn du nur wandern und einige Lost Places links liegen lassen möchtest, dann bietet sich bei einer Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln alternativ der Bahnhof Oerel an, der mit 1 km Distanz etwas dichter am NORDPFAD liegt als der in Heinschenwalde.
Auf der Wanderung kommst du auf dem alten Postweg am Vollmers-Hof vorbei, an dem wir bei unserer kleinen Exkursion - abseits des eigentlichen Weges - mit besonderer Erlaubnis vorbeigefahren sind. Führung und Wanderung verbindet das Forsthaus, das sich für eine Rast anbietet.
Der NORDPFAD Hinzel ist wohl der waldreichste der 24 NORDPFADE. Und der Hinzel ist mit rund 2.000 Hektar einer der größten Wälder der Region. Mit Glück kannst du Damwild sehen, das ist verbrieft. Mit Pech begegnen dir Wildschweine. Aber davon haben wir noch nichts gehört, das wäre wohl eine Premiere unter den Wanderern.
Auf dem letzten Bild des folgenden Sliders siehst du übrigens eine Art kleinen Wall. Unnützes Wissen: Der wird auch Hexenbarg genannt, angeblich ritten darauf die Hexen mit ihren Besen rum. Auch hiervon gibt es aber keine Überlieferungen.
Besonderheiten gibt es zum Thema Wald wohl nicht im Hinzel. Vielleicht nur die Sache mit den Robinien. Die wurden einfach aus einer Laune heraus gepflanzt, ohne besondere Bewandnis. Ich finde die zerfurchte Rinde aber einfach schön, weshalb ich dieses Thema doch gerne aufnehme.
Wir waren ein paar Tage zu früh dort für die Blüte, die jetzt im Mai beginnt. Sie ist eine wahre Bienenweide. Aus den Pollen machen die fleißigen Bienen, wenn man so will, "Scheinakazienhonig". Meine fleißige Freundin hat mir schon mal ein Gelee daraus gekocht. Aber Achtung: Nur die Blüten sind ungiftig, vom Rest solltest du dringend die Finger lassen! Alle weiteren Teile der Robinie sind giftig, selbst die Rinde solltest du nicht anfassen. Besser, du überlässt die Blüten sicherheitshalber den Insekten, und bewunderst den Baum lediglich mit deinen Augen.
Ansonsten werden Teile des Waldes sich selbst überlassen. Dort, im Bereich des Naturschutzgebietes, waren wir an dem Tag aber nicht. Es beginnt bei der Douglasie, an der Haselnussbrücke beim Heinschenwall.
Führung zu den Lost Places
Diese Führung im Hinzel und zu den Lost Places hat Dr. Hans-Joachim Andres aus Frelsdorf im Jahr 2019 erarbeitet und entwickelt. Mitte 2020 hat sich Dr. Andres aus diesem Projekt zurückgezogen. Die Führung wird nun vom Waldpädagogigzentrum Elbe-Weser der Niedersächsischen Landesforsten angeboten, und von Jörn Freyenhagen aus Deinste veranstaltet.
Der Rundgang ist etwa 8-9 km lang und dauert rund 3,5-4 Stunden, je nach Wetterlage. Angepasste Kleidung, robustes Schuhwerk, Insektenschutz, etwas zu Trinken und ein kleiner Snack sollten mitgebracht werden. Eine kurze Rast wird am Forstamt eingelegt. Nach der Tour erzählt Jörn noch Wissenswertes im Gemeindehaus. Dort gibt es auch Kaffee und Kuchen. Alles ist derzeit im Preis von 25 Euro enthalten. Kinder können ab einem Alter von 10 Jahren teilnehmen und zahlen 20 Euro.
In den Führungen geht es nicht nur um alte Straßenbahnen und fast unsichtbare Relikte rund um die Geschichte des alten Sperrzeugamtes, sondern auch um Wissenswertes rund um den Wald.
Über den folgenden Link findest du die nächsten Termine und alle aktuellen Infos zu den öffentlichen Führungen; individuelle Gruppenführungen können stets vereinbart werden:
Historie - ein Überblick
1933-1945 - Nationalsozialismus
1933-1936:
Bau des Marinesperrzeugamt Heinschenwalde mit Munitionsfabrik, Schmalspurbahn, rund 100 Bunkern, 50 Wohnungen für die Beschäftigten, Lager-/Betriebs-/Verwaltungsgebäude ...
1943:
Umbenennung von Marinesperrzeugamt in Marinesperrwaffenarsenal
1945:
Kriegsende
Im und nach dem Krieg gab es auch eine Tankstelle, zwei Kioske, zwei Kneipen und mehr. Eine Stadt im Wald.
1945-1960er Jahre - Nachkriegszeit
nach Kriegsende:
Großflächige Abholzung des Waldes wegen der Reparationszahlungen, später Wiederaufforstung
ab 1947:
- Munitionsfabriken wurden als Krankenhaus und später als landwirtschaftliche Lehranstalt der "DEULA" genutzt
- Gewerbebetriebe siedelten sich an, rund 350 Menschen wohnten und arbeiteten im Hinzel
- Geflügelhof Vollmer übernahm einige Gebäude
- Das Torfwerk Strenge verlegte die Schmalspurbahn und nutzte einen großen Teil der Steine der abgerissenen Gebäude
1951:
120 Kinder zogen in die Waldschule. Im Moorhof gegenüber vom Sperrzeugamt lebten 130 Geflüchtete.
seit den 1960er Jahren - Kalter Krieg bis heute
Mitte der 1960er Jahre:
- Pachtverträge wurden nicht verlängert, Firmen verließen den Hinzel
- Der Zivile Bevölkerungsschutz und das Technische Hilfswerk nutzten die Gebäude, Deponierung von Material für den Katastrophen- und Verteidigungsfall
Mitte der 1970er Jahre:
Bis dahin fanden rund 100 vertriebene Menschen aus den Ostgebieten in umgebauten Arsenalgebäuden eine Bleibe
1990er Jahre:
Militärische Abrüstung und Reduktion des Zivilschutzes, frei gewordene Gebäude bleiben ungenutzt
1997:
Schließung des Torfwerks
2000-2001:
Abriss der meisten noch erhaltenen Gebäude des ehemaligen Sperrzeugamtes
seit Mitte 2020:
Regelmäßige Führungen durch das Gebiet
5 Fragen an ...
- Kommst du gebürtig aus dem Landkreis Rotenburg (Wümme)?
Nein, ich bin gebürtiger Bremer (geb. in Bremen-Vegesack). - Was ist dein persönlicher Lieblingsort im Landkreis?
Ich mag den Hinzel, aber auch den Torfkanal bei Gnarrenburg und das Tister Bauernmoor. - Was schätzt du an den Menschen in der Region besonders?
Die Bodenständigkeit, den Humor und die Heimatliebe. - Was macht die Region lebens- und liebenswert?
Die Natur und dabei die gute Erreichbarkeit über die Verkehrswege sowie die ländliche Struktur. - Bist du eher Team Aktiv, Natur, Kultur oder Auszeit?
Verstehe die Frage nicht ganz, aber ich könnte mich zu allen Teams zählen - alles zu seiner Zeit.
Jörn Freyenhagen
Hauptstraße 2a
21717 Deinste
Tel:
0171 2703156
E-Mail:
freyenhagen@wald-analog.de
Die Lost-Places-Führungen sind direkt buchbar unter:
Weitere Angebote von Jörn Freyenhagen rund um die Waldpädagogik können über die obenstehenden Kontaktdaten gebucht werden, nähere Infos findest du hier:
Da Deinste außerhalb des Landkreises Rotenburg (Wümme) liegt, findest du Jörn nicht auf unserer Seite im Bereich der Gästeführer.
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